Publizist Martin Lohmann plädiert in kath.net-Interview für Gerechtigkeit im Umgang mit Kardinal Woelki, „auch und gerade, um die Aufarbeitung des Missbrauchsskandals nicht zu gefährden“ – Aschermittwochsbrief von Katholiken in voller Länge
Köln (kath.net) „Ich hoffe, dass man sich in Rom entschieden hinter Kardinal Woelki stellt und auch so Fairness und Gerechtigkeit fördert. Denn wenn ich den Kardinal richtig verstehe, will er nicht nur schonungslos, sondern auch rechtskonform aufklären. Und ich hoffe sehr, dass sich auch der Klerus von Köln hinter seinen Erzbischof stellt und manche seltsamen Klerikal-Auftritte gegen Woelki der Vergangenheit angehören.“ Das sagte der Bonner Publizist und Theologe Martin Lohmann im kath.net-Interview.
kath.net: Herr Lohmann, Sie leben im Erzbistum Köln und kennen sich dort bestens aus. Wie nehmen Sie in diesen Tagen die Stimmung unter Katholiken wahr?
Martin Lohmann: Das kann ich nur aus ganz persönlicher Sicht und Beobachtung beantworten. Auch wenn ich mit sehr vielen Menschen im Gespräch bin, so erhebe ich hier keinen Anspruch auf Unfehlbarkeit oder Repräsentativität. Aber ich erlebe schon: Die Stimmung ist sehr unterschiedlich. Ich habe den Eindruck, dass es viel Zerrissenheit gibt. Viele scheinen verwirrt, unsicher und auch ratlos angesichts der heftigen Debatten über Kardinal Woelki. Da mischt sich nicht selten viel Unwissenheit mit sehr viel Empörung. Und daraus wird nicht selten ein geradezu explosives Gemisch gegen Rainer Woelki. Vieles hat mit Fairness und Gerechtigkeit nichts mehr zu tun. Gar nichts mehr.
Hinhören und behutsames Wahrnehmen dessen, was der Kardinal – trotz einiger Kommunikationspannen und schräger Kommunikationsfehler – wirklich sagt und will, scheint für manche, die sich lautstark und mit eigener Empörungsüberwölbung final urteilend gegen ihn wenden, eine komplette Überforderung darzustellen.
Auf der anderen Seite melden sich aber auch immer mehr gläubige Katholiken zu Wort, die dem Kardinal den Rücken stärken.
Wie gesagt: Im Erzbistum Köln sind viel Zerrissenheit und Irritation zu beobachten. Von Dialogbereitschaft und Dialogbegabung ist weitgehend wenig zu sehen und zu spüren. Leider.
kath.net: Wer trägt dafür die Schuld aus Ihrer Sicht?
Martin Lohmann: Da steht mir ein Urteil nun wirklich nicht zu. Aber ich nehme wahr, dass der Kardinal für sich und das Bistum im Blick auf Kommunikationsfehler und unglückliches Agieren Fehler eingestanden hat. Und ich nehme wahr, dass er seiner Linie treu bleibt und bleiben will, wirklich konsequent aufklären zu können – mit allen Konsequenzen.
Andererseits nehme ich aber auch wahr, dass es, wenn man Augen und Ohren nicht völlig zuklebt, böse und dem Anliegen alles andere als dienliche Attacken gegen ihn gibt, sogar aus dem Klerus.
Weil Sie sich nach der Stimmung im Erzbistum gefragt haben: Man kann schon manches Kopfschütteln, ungläubige Verzweiflung und Entsetzen über manche, so heißt es dann, alles andere als christliche, Attacken wahrnehmen.
kath.net: Werden da auch Namen genannt?
Martin Lohmann: Ja, aber die wiederhole ich jetzt nicht. Mir und anderen geht es nicht um weitere Verwirrung und Zerrissenheit, sondern um, nennen wir es mal so, Wiederaufbau des Vertrauens, das arg zerstört wurde. Darüber sollten diejenigen gewissenhaft nachdenken, die dafür verantwortlich sind.
Nicht nur ich bin beeindruckt, dass der Kölner Erzbischof – im Unterschied zu anderen ihm gegenüber – bisher keine Attacke gegen einen seiner bischöflichen Mitbrüder gefahren hat, sondern strikt bei seiner Linie bleibt, die sich ja kein Jota seit der Ankündigung im vergangenen Jahr geändert hat: Aufklären, aufklären, aufklären. Und dies den Opfern gerecht werdend durch Sorgfalt und möglichst große Vollständigkeit.
Wenn es richtig gesehen wird, hat der Kardinal nicht einmal das umstrittene erste Gutachten gelesen, reiht sich also ein in die Schar der auf das neue Gutachten Wartenden.
Da fragen jetzt manche, ob es eigentlich anständig und christlich sei, ihn durch eine ständige Befeuerung offenbar zur Resignation zu treiben. Warum? Wird hier eine bislang klar erkennbare Aufarbeitungsabsicht absichtlich konterkariert? Und aus welchem Grunde bitte?
kath.net: Manche behaupten, das habe etwas mit Woelkis kritischer Haltung gegenüber dem Synodalen Weg zu tun? Sehen Sie das auch so?
Martin Lohmann: Ich sehe nur, dass es augenscheinlich verschiedene Maßstäbe gegenüber verschiedenen Oberhirten gibt. Den Grund dafür kenne ich nicht. Aber das von Ihnen erwähnte Begründungsmuster hört man immer häufiger.
Ich finde: Es wird insgesamt Zeit für den Mut zur Fairness. Und dazu gehört der unbedingte Wille aller, angstfrei und ehrlich aufarbeiten und aufklären zu wollen. Niemand hat das Recht, den Missbrauchsskandal in irgendeiner Weise zu missbrauchen. Das sind eigentlich alle erst recht den Opfern schuldig, hier ganz aufrichtig und konsequent verantwortungsvoll zu handeln. Das nennt man wohl Verantwortungsübernahme. Mit allen Konsequenzen, für alle gleich. Egal, wo sie in welchen innerkirchlichen Reformdebatten auch stehen.
kath.net: Herr Lohmann, Sie gehören zu den Initiatoren einer Initiative, die sich „Fairness in der Kirche“ (www.fairness-in-der-kirche.de) nennt und den Kölner Kardinal Woelki unterstützt. Worum geht es da? Warum diese Initiative? Was wollen Sie erreichen? Was haben Sie erreicht in den vergangenen Wochen?
Martin Lohmann: Unsere Initiative kommt aus der Mitte der Kirche. Wir sind engagierte Christen, die sich um vieles in der katholischen Kirche Sorgen machen.
Dieser schreckliche Missbrauchsskandal kann schließlich niemanden, der es mit der Lehre Jesu Christi ernst nimmt, auch nur ansatzweise gleichgültig sein lassen.
Wir sind aber auch gegen den schon beschriebenen Umgang mit manchen Bischöfen mit viel Unfairness und Hetze, was ebenfalls nicht gut ist und dem christlichen Anspruch auf Aufklärung, Gerechtigkeit und Respekt widerspricht.
Besorgt haben viele von uns wahrgenommen, dass vor allem der Kölner Kardinal und Erzbischof zur – man muss diesen Eindruck ja gewinnen – Zielscheibe für alle Attacken gemacht wird und man ihm unterstellt, ausgerechnet er wolle keine saubere und vorbehaltlose Aufklärung betreiben. Das Gegenteil ist wahr.
Inzwischen haben weit mehr als 2000 Freunde der Fairness und der Gerechtigkeit unseren Aufruf unterschrieben. Und zwar aus allen Teilen der Kirche und der Gesellschaft. Und auch viele Katholiken aus dem Ausland.
kath.net: Sie unterstützen den Kardinal und seine Unerschrockenheit öffentlich. In einem Offenen Brief, den Sie jetzt gemeinsam mit anderen katholischen Christen zum Beginn der Fastenzeit als Aschermittwochsbrief www.brief-an-kardinal-woelki-aschermittwoch-2021.de veröffentlichten, heißt es unter anderem: „Wir unterstützen Ihre Bemühungen, den Missbrauchsskandal verantwortungsbewusst aufzudecken und den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.“ Und: „Wir unterstützen Ihre Haltung, sich bis zur Veröffentlichung der beiden Gutachten inhaltlich nicht zu äußern, um mit den dann öffentlichen Gutachten die Aufarbeitung in neuer Qualität fortsetzen zu können. Die erfolgten Durchstechereien einzelner Missbrauchsfälle dienen nicht der umfassenden Aufklärung. In dem erwarteten Gutachten sollen alle Fälle, die dokumentierbar sind, solide und umfassend veröffentlicht werden. Erst dann kann man sie bewerten und öffentlich urteilen.“ Zugleich zeigen Sie aber auch Verständnis für manche Verärgerung: „Wir verstehen den Unmut über die verzögerte Veröffentlichung. Die von interessierter Seite aus diesem Anlass angefachte Entrüstungsspirale, die inzwischen auch kirchliche Kreise erfasst hat, hat jedoch nicht die Aufklärung zum Ziel, sondern dient in erster Linie dazu, Sie zu desavouieren. Dazu scheint jedes Mittel recht.“
Martin Lohmann: Ja, das sind die wesentlichen Aussagen unseres Briefes vom Aschermittwoch. Wir sagen aber auch als besorgte Christen aus dem ganz normalen realen Kirchenleben: „Wir wünschen uns als Ihnen anvertraute Gläubige aus dem Erzbistum, dass Sie standhaft bleiben, dass Ihr guter Ruf wiederhergestellt und Ihr langjähriger Einsatz insbesondere für Opfer sexuellen Missbrauchs in rechter Weise gewürdigt werden.“ Die Fastenzeit, die nun begonnen hat, sollten wir alle nutzen, um der Wahrheit und dem Frieden eine Gasse zu gönnen. Darum sagen wir abschließend: „Mit dem Aschermittwoch beginnt die Zeit des Fastens, der Wiedergutmachung und Umkehr. Wo die Fastenzeit angenommen wird, bringt sie Versöhnung, Freude, Licht und Heilung.“
kath.net: Zum Schluss, Herr Lohmann: Was wünschen Sie als erwiesener Kirchenkenner mit viel Insiderwissen sich konkret? Was hielten Sie jetzt dringend für notwendig? Was sollte bis zum 18. März, dem Tag der Veröffentlichung der Gutachten, passieren? Und was danach? Was wünschen Sie sich und Ihrer Kirche?
Lohmann: Verbale Abrüstung innerhalb der Kirche und den mutigen Versuch, einen ehrlichen und belastbaren Dialog zu üben, wertschätzend miteinander umzugehen und jede Hetze sowie deren Beförderung zu vermeiden.
Und: faktenbasiert zu reden und zu handeln.
Erst recht nach Kenntnisnahme dessen, was das Gutachten alles an Fakten bringt. Nur Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, gleiche Maßstäbe und maßstabsgetreue Unterstützung bei der dringend gebotenen vorbehaltlosen Ausarbeitung durch richtige Aufklärung helfen weiter.
Die Kirche müsste es doch wahrlich besser wissen und können als alle anderen. Vorausgesetzt, manche Personen dort haben nicht gänzlich vergessen oder verdrängt, was Kirche im Kern ist und wem sie verpflichtet bleiben muss.
Es wäre besser, christlicher, mitbrüderlicher und fairer, wenn man den ehrlichen Aufklärungswillen des Kölner Kardinals unterstützt und nicht alles unbarmherzig und toleranzfrei auf dem Weg zum 18. März torpediert, zumal Rainer Kardinal Woelki sehr deutlich bekannte, dass auch in Köln und auch von ihm selbst Fehler gemacht worden sind.
kath.net: Offenbar hat man sich in Rom hinter Kardinal Woelki gestellt. Ist das gut? Die Aktion „Wir sind Kirche“ hat ja sofort scharfe Kritik daran geübt.
Lohmann: Ich hoffe, dass man sich in Rom entschieden hinter Kardinal Woelki stellt und auch so Fairness und Gerechtigkeit fördert. Denn wenn ich den Kardinal richtig verstehe, will er nicht nur schonungslos, sondern auch rechtskonform aufklären. Und ich hoffe sehr, dass sich auch der Klerus von Köln hinter seinen Erzbischof stellt und manche seltsamen Klerikal-Auftritte gegen Woelki der Vergangenheit angehören.
Und was die selbsternannte sogenannte Reformbewegung, die sich „Wir sind Kirche“ nennt, mit sprungbereiter Angriffslust gegen Signale der Fairness so wettert, will ich nicht weiter kommentieren. Nur soviel: Generell gilt ja, dass eine zu große Verliebtheit in die eigene Ideologie blind machen kann und den Zugang zur Wirklichkeit, zu Fairness und Gerechtigkeit verbaut. Wer Feindbilder braucht, sucht und zu finden meint, hat vielleicht den Kern dessen, was Kirche wirklich und eigentlich ist, nicht so ganz verstanden.
Ich glaube übrigens fest, dass die meisten Katholiken eine echte Reform der Kirche wünschen, wozu nicht zuletzt auch ein respektvoller Umgang miteinander gehört.
Die Urform der Kirche ist Jesus Christus. Er war, ist und bleibt das Maß. So gesehen brauchen wir eine Re-Form. Überall. Immer.
Link zum Appell „Fairness in der Kirche“
kath.net dokumentiert den Offenen Brief an Kardinal Woelki von Aschermittwoch in voller Länge:
Sehr geehrter Herr Kardinal Woelki,
wir unterstützen Ihre Bemühungen, den Missbrauchsskandal verantwortungsbewusst aufzudecken und den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Sie haben ein erstes, von Ihnen in Auftrag gegebenes Gutachten bislang nicht veröffentlicht. Es soll erst am 18. März zusammen mit einem weiteren Gutachten des Strafrechtsprofessors Gehrke bekannt gemacht werden. Das haben Sie nachvollziehbar begründet.
Mitte März wird das Erzbistum Köln damit die bis dahin umfassendste und ohne großflächige Schwärzung erstellte Dokumentation von Missbrauch und seiner Behandlung durch Entscheidungsträger in einer deutschen Diözese vorlegen, auch soweit es Ihre Person betrifft.
Wir unterstützen Ihre Haltung, sich bis zur Veröffentlichung der beiden Gutachten inhaltlich nicht zu äußern, um mit den dann öffentlichen Gutachten die Aufarbeitung in neuer Qualität fortsetzen zu können. Die erfolgten Durchstechereien einzelner Missbrauchsfälle dienen nicht der umfassenden Aufklärung. In dem erwarteten Gutachten werden alle Fälle, die dokumentierbar sind, solide und umfassend veröffentlicht werden. Erst dann kann man sie bewerten und öffentlich urteilen.
Wir verstehen den Unmut über die verzögerte Veröffentlichung. Die von interessierter Seite aus diesem Anlass angefachte Entrüstungsspirale, die inzwischen auch kirchliche Kreise erfasst hat, hat jedoch nicht die Aufklärung zum Ziel, sondern dient in erster Linie dazu, Sie zu desavouieren. Dazu scheint jedes Mittel recht.
Wir wünschen uns als Ihnen anvertraute Gläubige aus dem Erzbistum, dass Sie standhaft bleiben, dass Ihr guter Ruf wiederhergestellt und Ihr langjähriger Einsatz insbesondere für Opfer sexuellen Missbrauchs in rechter Weise gewürdigt werden.
Mit dem Aschermittwoch beginnt die Zeit des Fastens, der Wiedergutmachung und Umkehr. Wo die Fastenzeit angenommen wird, bringt sie Versöhnung, Freude, Licht und Heilung.
Als Unterzeichner führt uns stellvertretend für viele andere zusammen, dass wir katholisch sind.
Bröcker, Ina, Bankkauffrau, Köln
Czampiel, Janosch, Küster, Köln
Döller, Thomas, Ingenieur bei Ford, Köln
Dohm, Stefan, Dr. med., Augenarzt, Bergisch Gladbach
Erfurt, Hubertus, öbuv Kunstsachverständiger, Köln
Gralka, Florian, Auszubildender, Bergisch Gladbach
Hildebrandt, Volker, Dr. phil., Pfarrer, Köln
Iking, Thomas, Pfarrer, Köln
Janik, Damian, Elektrotechniker, Bergisch Gladbach
Janik, Karina, Familienmanagerin von einem Ehemann und 4 Kindern, Bergisch Gladbach
Jauch, Hans-Gerd, Anwalt, Köln
Kurka, Elena, Zahnärztin, Köln-Vingst
Lensing, Stephan, Versicherungsmakler, Köln
Lohmann Martin, Publizist und Theologe, Bonn
Menke, Karl Heinz, Prof. em. Dr. theol., Bonn
Müller, Andreas, ehemaliger Dom-Messdiener, derzeit im Norden Deutschlands
Nagel, Erika, Richterin a.D., Köln
Paffenholz, Heidrun, Pfarramtssekretärin, Köln
Prinz, Dominik & Nicole, ein Jahr verheiratet und schon zu dritt, Troisdorf
Prinz, Laura, Studentin, Wuppertal
Poblotzki, David, Schulleiter, Euskirchen
Reufels, Dorothea, Dr. med., Assistenzärztin, Köln
Schwedhelm, Walter, Versicherungsfachwirt, Bonn
Sluminsky, Daniel, Kreisjungendseelsorger Rhein-Sieg und Altenkirchen
Stengel, Rüdiger, Dr. Freiherr von, Unternehmer, Bonn
Trimborn, Michael, Prof. Dr. jur., Köln
Walter, Johannes, Steuerberater, Euskirchen
Missbrauchskandal: Fragen, die es auch geben muss
„Ist es eigentlich fair, alle Empörung allein gegen Woelki zu richten? Manchen erscheint es, als wolle man ihn gerade wegen seiner unbedingten Aufklärungsbereitschaft … waidwund schießen.“ Gastbeitrag von Martin Lohmann
Bonn (kath.net) Es ist selbstverständlich und verständlich: In diesen Tagen wird man als erkennbar bekennender katholischer Christ immer wieder angesprochen auf den Missbrauchsskandal, dessen Aufarbeitung und die katholische Kirche. Vieles wird mehr und mehr hinterfragt, auch, ob es eigentlich fair und richtig ist, alle Empörung allein gegen den Kölner Kardinal zu richten. Manchen erscheint es, als wolle man diesen Erzbischof gerade wegen seiner unbedingten Aufklärungsbereitschaft noch vor der Veröffentlichung des Gutachtens am 18. März waidwund schießen. Warum? Was soll da verhindert werden? Wer will von was ablenken? Wen stört diese bislang einzigartige Aufklärungskonsequenz? Wer fürchtet da was?
Die überzeugt katholische Person, die mir nun ihre Gedanken zunächst vertraulich mitteilte und der ich versprach, ihren Namen nicht zu nennen, nachdem ich die Erlaubnis bekam, ihre Überlegungen zu veröffentlichen, nenne ich einfach mal Homo Frager. Dessen Beitrag zur aktuellen Situation versteht der oder die H.F. als etwas, mit dem auf keinen Fall irgendein Verbrechen kleingeredet oder exkulpiert werden soll. Im Gegenteil. Mein Gesprächspartner ist ebenso erschüttert wie angewidert von den Sextätern im Priesterrock und jeder Form von Kinderseelen zerstörender Pädophilie wie jeder Mensch mit gesundem Verstand und geformten Gewissen. Aber Homo Frager meint auch, dass seine Fragen auch andere beschäftigen. Und daher darf ich sie veröffentlichen.
„Ist eine Veröffentlichung von Namen der Täter immer gerechtfertigt? Kommt sie nicht in der heutigen Mediengesellschaft einer Hinrichtung gleich und erinnert an öffentliche Hexenprozesse im Mittelalter? Stehen die – durchaus verständliche, aber auch bisweilen nicht mehr steuerbare – Wut und Empörung nicht im Widerspruch zu den Worten Jesu: ‚Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein.‘ (Joh 8, 7)? Gelten die ansonsten von der Kirche immer gepredigten Einladungen zur Begegnung mit der göttlichen Barmherzigkeit – bei allem Entsetzen über die unsäglichen Verfehlungen von Seelsorgern – generell jetzt nicht mehr? Wie steht es um die Aussage in der Bibel: ‚Ebenso wird auch im Himmel mehr Freude herrschen über einen einzigen Sünder, der umkehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die es nicht nötig haben umzukehren.‘ (Lk 15, 7)? Werden die jetzt gejagten Sünder allesamt ausgeschlossen vom Jesus-Wort: ‚Ich bin gekommen, um die Sünder zur Umkehr zu rufen, nicht die Gerechten‘ (Lk 5, 32)? Gilt das Gebot zur Resozialisierung von Straftätern, das sogar Mörder und Mörderinnen betrifft und betreffen muss, für Priester, die ihre Berufung übelst besudelt haben, ganz und gar nicht?
Werden hier nicht alle Möglichkeiten von Reue, Umkehr, Beichte, Vergebung, Versöhnung, Buße und die Erfahrung von Gnade und Erbarmen angesichts von Sünde und Schuld konterkariert? Schafft man durch öffentliche Medientribunale nicht auch Stigmata für den Rest des Lebens?
Und auch das: Kann im Fall einer Falschverdächtigung und Vorverurteilung nicht eine unermessliche, nicht wieder gutzumachende Rufschädigung bewirkt werden? Wer trägt dafür wie die Verantwortung? Und im Blick auf den Umgang mancher Oberhirten mit den personenbezogenen Daten aus Personalakten darf gefragt werden: Versteckt sich hier nicht auch eine Art Missbrauch im Umgang mit Daten, der den totalen Verlust jeglicher Vertraulichkeit zwischen dem Bischof und den ihn anvertrauten Priestern bedeutet und einer Abschaffung des „forum internum“ gleichkäme? Wie werden Angeklagte und (Vor)Verurteilte vor medialen Scheiterhaufen, möglicher Selbstjustiz und Lynchjustiz bewahrt? Wie ein aktueller Fall zeigt: Auch Priester können zu Selbstmördern werden. Oder hat sich Augustinus komplett geirrt, als er in seinem Sermo 4,20 sagte: ‚Porta peccatorem, non ut ames pec-catum in illo, sed ut persequaris peccatum propter illum. Dilige peccatorem, non in quantum peccator est, sed in quantum homo est. – Ertrage den Sünder nicht so, daß du in ihm die Sünde liebst, sondern so, daß du die Sünde um seinetwillen bekämpfst. Liebe den Sünder, nicht insofern er Sünder ist, sondern insofern er ein Mensch ist wie du.‘ Und war es aus heutiger Sicht falsch, dass der Kirchenvater (in seinen Enarrationes in Psalmos 139,2) meinte: ‚Sicher sind wir also darin, dass wir das Böse an den Übeltätern hassen, das Geschöpf aber lieben, so dass wir hier lieben, was Gott geschaffen hat, dort aber hassen, was der Mensch verursacht hat. Gott nämlich hat diesen Menschen geschaffen, der Mensch aber hat die Sünde verursacht. Liebe, was Gott geschaffen hat, aber hasse, was der Mensch verursacht hat; auf solche Weise nämlich sollst du das Böse bekämpfen, das der Mensch verursacht hat, dass befreit werde, was Gott erschaffen hat‘?“
Soweit die Anwürfe der/des Homo Frager. Klar muss sein, dass nichts unterlassen werden darf, die Opfer zu schützen, den Opfern zu helfen – und vor allem: möglichst alle künftigen Opfer zu vermeiden! Welche über das Juristische hinausgehende christliche Botschaft hat die Kirche eigentlich (noch) für diejenigen, deren Seelen und Körper durch Sexsucht, Triebsteuerung und gravierendem Verantwortungsmissbrauch tief verletzt und gänzlich unchristlich missbraucht wurden? Fragen, die auch Homo Frager hat – zweifellos ohne Relativierung durch die oben gestellten Fragen.
Aber: Wie geht man mit solchen verständlichen, jedoch eben sehr schwierigen Fragen in diesen so aufgewühlten Zeiten der Unsicherheit und des Glaubensverrates um? Schließlich sind es aufgrund der Abtrünnigkeit, die sich da – übrigens bei Lichte besehen nicht allein in der Kirche – auftun, auch Zeiten, in denen Glaubwürdigkeit und Vertrauen auf der Kippe stehen und Differenzierungen fast schon unanständig zu sein scheinen. Wichtige Botschaften, die eben auch notwendig sind für einen immer wieder schwierigen Umgang miteinander in einem immer und dennoch die Humanität fordernden Leben, sind aus durchaus verständlichen Gründen vom Löschen bedroht. Auch hier ist die Kirche herausgefordert, das Richtige und Wichtige zu tun. Bei aller Kritik an unsäglichen (Kommunikations-)Fehlern muss diese ungeprobte Vorbildfunktion letztlich auch hier gelingen, damit endlich auch andere gesellschaftliche Größen wie zum Beispiel Sportvereine, Schulen, Medienhäuser und nicht zuletzt die Grünen. Hatten dort nicht einige vor Jahren tatsächlich die Freigabe der Pädophilie gefordert und die Verantwortung und Respekt lehrende Kirche zwischen Häme und Mitleid verachtend betrachtet? Müssten und sollten nicht endlich auch sie alle den Mut den Mut zur ehrlichen und konsequenten Aufarbeitung ihrer sexuellen Verbrechen im Namen verratener Freiheit aufbringen? Auch hier darf nichts verschwiegen oder durch eifriges und bisweilen perfides Empören über die Kirche ablenkend vertuscht werden. Aufklärung tut (überall) not.
Quelle: https://kath.net/news/74384 (Erschienen am 19. Februar 2021)
Quelle: https://kath.net/news/74497 (Erschienen am 03. März 2021)