Die DNA der Kirche: Glaube, Wahrheit und Freiheit

Dieses Buch kann als Kompass des Wesentlichen durch verwirrte und unsichere Zeiten dienen. Es macht deutlich, dass Glaube und Vernunft einander ergänzen. Und es zeigt: Glaube ist etwas Schönes. Er gibt dem Leben Weite und Freiheit. 

von Josef Kraus

Wenn sich ein erfahrender Journalist und ein bis vor kurzem ranghoher Kurienkardinal zusammensetzen, in Rom einige Tage ein diskursives Gespräch über die DNA der Kirche führen und daraus ein Buch machen, muss dies geistliche und nichtgeistliche Katholiken, womöglich auch Protestanten, vielleicht sogar Kirchenferne aufhorchen lassen. Die beiden, die dies getan haben, sind Martin Lohmann und Gerhard Kardinal Müller.

Lohmann (*1957) ist in der Publizistik kein Unbekannter. Er war stellvertretender Chefredakteur des „Rheinischen Merkurs“, Moderator der „Münchner Runde“ des Bayerischen Fernsehens und Chefredakteur der „Rhein-Zeitung“ (Koblenz). Heute arbeitet der Medienexperte für Ethik und Gesellschaftslehre als freier Journalist.

Gerhard Kardinal Müller (*1947) promovierte 1977 bei Karl Lehmann, dem späteren Kardinal, mit dem Thema „Kirche und Sakramente im religionslosen Chris­tentum. Bonhoeffers Beitrag zu einer ökumenischen Sakramententheologie“. 1978 wurde Müller zum Priester geweiht, es folgten Stationen in Pfarreien und als Religions­lehrer. 1985 habilitierte sich Müller ebenfalls bei Lehmann mit dem Thema: „Gemeinschaft und Verehrung der Heiligen. Geschicht­lich-systematische Grundlegung der Hagiologie“. 1986 wurde Müller Professor für Dogmatik an der Ludwig-Maximilians-Uni­versität in München, dazu kamen Gastprofessuren in Cusco (Perú), Madrid, Philadelphia, Kerala, Santiago de Compostela, Salamanca, Rom, Lugano, Sao Paolo. Von 2002 bis 2012 war Müller Bischof von Regensburg, von 2012 bis 2017 Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre. Zwar verfügt Gerhard Ludwig Müller über keine offizielle Amtsautorität mehr, weil Papst Franziskus 2017 seine fünfjährige Amtszeit als Chef der Glaubenskongregation nicht verlängert hat. Aber Müller mischt sich ein, er bleibt ein „homo politicus“, an dem man sich reiben kann

Der 340 Seiten starke Gesprächsband ist jedenfalls ein hochinteressantes Buch: theologisch, kirchenpolitisch, allgemein-politisch und biographisch. Es reicht von der frühen christlichen Prägung Müllers durch Elternhaus, Religionsunterricht und Pfarrei bis hin zu Müllers Erfahrungen mit der Lektüre der Bibel sowie der Schriften der Kirchenlehrer Augustinus oder Thomas von Aquin. Geschärft hat der junge Müller sein Denken auch an Schriften der Religionskritiker Comte, Voltaire, Feuerbach, Marx, Nietzsche, Freud. Vor allem aber geht es im Buch um die aktuellen Herausforderungen des Glaubens und der Katholischen Kirche. Greifen wir ein paar Aspekte des Gesprächs zwischen Lohmann und Müller heraus.

Erstens: Dezidiert weist Müller das Ansinnen christlicher Theologen zurück, den Christengott und Allah unter der Überschrift „monotheistische Religionen“ als ein und denselben Gott zu sehen. Müller dazu: „Wir Christen glauben an den einen Gott in drei Personen. Es ist der Gott und Vater Jesu Christi und es nicht Allah, der Gott, als dessen Propheten sich Mohammed verstand. Man kann also nicht, wie es die sogenannte liberale Theologie versuchte, uns zu erklären, sagen, dass es sich nur um verschiedene Varianten eines gleichen Grundschemas handelt. Wir Christen sind nicht Vertreter eines theoretischen Monotheismus, sondern: Wir glauben an Gott, an den einzigen wahren Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, an den Vater Jesu Christi. Und wir glauben, dass dieser Gott in drei Personen zu uns spricht und wir getauft sind auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Es ist ein und derselbe Gott, der einzige Gott, der sich in Christus vollkommen uns mitgeteilt hat.“ Dieser Glaube, dieses Gottesbild der Trinität sei nach ka­tholischer Überzeugung unüberbietbar und einzigartig.

Zweitens: Ein Dorn im Auge ist Müller die „Selbstsäkularisierung der Kirche nach dem Modell des liberalen Protestantismus.“ Denn dies sei nicht der erste Schritt ihrer Modernisierung, sondern der letzte vor ihrer Selbstabschaf­fung. Es sei eben falsch und fatal, wenn man meine, sich am Mainstream und an der sogenannten political correctness zu orientieren.

Drittens: Das im März 2019 gestartete Bemühen der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) und des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) um einen „synodalen Weg“ sieht Müller sehr kritisch. Wörtlich Müller: „Ich kann bisweilen nur staunen, was Bischöfe so alles denken – und dann auch noch sagen ‚Die Kirche ist aber keine mensch­liche Erfindung!‘ Sie ist und bleibt Gotteswerk, eine göttliche Stiftung, ein von Gott gegebenes Geschenk. Oder sie ist nichts … Die vom Gottessohn uns geschenkte und gestiftete Kirche, in der Christus leibhaftig weiterlebt und gegenwärtig ist, die er uns treuhänderisch an­vertraut hat, ist Gottes Werk …“

Viertens: Die Ökumene ist Müller gleichwohl ein Anliegen. Aber: „Das Luther-Jubiläum 2017 war wohl insgesamt keine Stern­stunde für die Ökumene.“ Man hätte 2017 seitens der Kirche die Politik völlig heraushalten müs­sen. Die eigentlichen Themen des Glaubens, der Kirche, der Sakramente seien kaum zum Zuge gekommen – etwa die Fragen: Was sind die Wurzeln des Unterschiedes, wie kam es dazu? Man hätte es viel mehr theo­logisch nutzen sollen. Was ist mit der Rechtfertigung? Inwie­weit gibt es da Missverständnisse schon bei Luther? Wie kam es zum Rückfall ins Heidentum bei der neuzeitlichen Theo­dizee-Frage, wenn Gott sich rechtfertigen soll angesichts des Leidens der Welt?

Fünftens: Zumeist nennt er sie nicht beim Namen, aber so manch deutscher Oberhirte findet Müllers Missbilligung. Dem Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer, der der Klimaaktivistin Greta attestiert hatte, sie sei „kreativ wie der Schöpfergott, geistreich wie der Heilige Geist und hellwach wie Jesus Christus“, wirft Müller eine Neigung zu einer Ersatz- und Zivilreligion vor. Gar nicht im Einklang ist Müller mit seinem Kardinalskollegen Reinhard Marx von München. Müller nennt ihn zwar nicht namentlich, aber er stört sich sehr an Marx’ Aussage, der Begriff „christliches Abendland“ könne ausgrenzend und diffa­mierend sein. Müller wörtlich: „Da zeigt sich zunächst einmal ein eklatanter Wissensmangel hinsichtlich dessen, was hier im Abendland gewachsen und entstanden ist … Es ist ein relativistischer Standpunkt, wenn man meint, das Bekenntnis zu Jesus Christus, dem Sohn Gottes, grenze an­dere aus.“ Und fährt fort: „Mir scheint der Vorschlag, auf den Begriff des christlichen Abendlandes zu verzichten, doch eine Art billiger Anbiederung zu sein.“

Sechstens: Was wäre ein solches Buch bei aller Kritik ohne eine Perspektive? Müller deutet letztere zumindest an, er nennt sie eine „Perspektive der Freiheit.“ Der Mensch sei zur Freiheit berufen, die er aber nur auf dem Grund der Wahrheit erreiche. Und Gott führe niemals in die Irre. Müller weist zum Ende des Dialogs mit Lohmann noch einmal auf Benedikt XVI. hin, der die Beziehung von Glauben und Vernunft stets betont. Und auf die Verbindung zwischen Wahrheit und Schönheit – auch der Schönheit des Glaubens – die unauflöslich ist. Das mache die Lust, katholisch zu sein, und die Schönheit des Glaubens, also die DNA seiner Kirche aus, so Gerhard Kardinal Müller.

Alles in allem: Es sind in diesem Gesprächsbuch über die skizzierten Thesen hinaus noch viele andere sehr markante, durchaus Widerspruch provozierende Aussagen zu finden. Für die katholische Kirche in Deutschland müsste das Buch so oder so ein Weckruf sein. Denn eine Reform der katholischen Kirche kann keine neuerliche Reformation sein. Und auch zur bestehenden evangelischen Kirche bedarf es keiner zweiten. Was nicht ausschließt, dass beide Kirchen – statt mehr und mehr zu politisierenden NGOs zu werden – sich gemeinsam auf ihren Auftrag der Verkündigung des Glaubens und der Missionierung besinnen.

Quelle: https://www.tichyseinblick.de/feuilleton/buecher/die-dna-der-kirche-glaube-wahrheit-und-freiheit/  (Erschienen am 29.11.2020)