Wer auf die „deutsche“ Kirche schaut, hört viel von Strukturen, Dialog und Erneuerung. Doch worum geht es wirklich? Und wie gefährlich ist das alles? Ist sie längst eine Kirche der Heiden geworden? Der Vortrag eines Jesuiten aus dem Jahre 1992 erweist sich als brisante Blaupause. Ein Essay von Martin Lohmann
Zukunftspläne haben Konjunktur. Vor allem in der Kirche in Deutschland, die sich gerne – theologisch falsch und faktisch real – als „deutsche Kirche“ präsentiert. Keine Woche vergeht, keine Konferenz von den bekannten Gremien kommt ohne entsprechende Erklärungen aus, ohne dass auf den eklatanten Wandel der Kirche hingewiesen wird und die Notwendigkeit neuer pastoraler Wege beschworen wird. Und stets schwingt dabei wie ein Zauberwort der Begriff der Strukturen mit.
Was einst einmal Seelsorge war oder genannt wurde, scheint heute im Begriffspaar Struktur und Pastoral neu aufzuleuchten. Oder doch eher regelrecht zu ertrinken? Inzwischen haben Bischöfe und Bistumsleitungen jahrelange Erfahrungen mit den Ergebnissen aus Prozessen, zu denen man sich für teures Geld Wirtschaftsprüfungspäpste und säkulare Consultinggurus ins Haus geholt hatte, um dem „Unternehmen“ Kirche einen neuen, einen attraktiven Schliff geben zu lassen. Effizienz heißt eines der magischen Wörter.
Pfarreien werden zusammengelegt und zu großflächigen Managementbetrieben umgestaltet. Der Marketingfaktor spielt eine Rolle. Und Seelsorge wird, so scheint es bisweilen, zum möglichst disponiblen Betriebsfaktor für diözesane Vorstandsvorsitzende mit violetter oder roter Amtskleidung. Der Haushalt bestimmt das Arbeitsfeld. Gottesdienste müssen angebotsmäßig entsprechend angepasst werden. Aus der einst hierarchisch verfassten Eccelesia als dem fortlebenden Christus mit bleibend wahrer Botschaft entwickelt sich eine beeindruckende Sozialagentur mit sakralem Zusatzangebot. Mystisches wird durch Mythisches ersetzt. Und am Ende steht der Runde Tisch – für alles und alle. Ist das so? Muss das so sein? Kommt so die Erneuerung der zweifellos krisengeschüttelten Kirche?
Wer darauf Antworten sucht, muss ein wenig zurückschauen – und entdecken, dass vieles von dem, was gläubige Christen, die noch an die Gegenwart des Herrn glauben und in ihrer Kirche mehr als eine horizontale Einrichtung zum Wohlfühlsein erkennen wollen, mit Sorge betrachten, keineswegs zufällig vom Himmel gefallen ist. Manches ist geradezu strategisch geplant und entschieden gewollt. Und zwar schon lange.
Erhellend und auch entlarvend ist da zum Beispiel ein Referat, das der Jesuit Wolfgang Seibel auf einem Provinzsymposion in Freising im April 1992 hielt. Der Pater beschreibt darin die Kirche als Pyramide, aus der aber rasch und endgültig ein Runder Tisch werden müsse. Er geht von seinem Blick auf die Moderne aus, benennt die Menschen- und Bürgerrechte sowie die Freiheitsrechte des homo actualis, markiert seine Individualität und Rationalität – und wendet sich gegen jede amtsgebundene Autorität. In seinem Vortrag erfährt man, dass sittliches Handeln „Selbstbestimmung in Freiheit durch Vernunft“ sei. Man liest und hört, dass die „religiöse Sinngebung (…) für immer weitere Bereiche ihre Bedeutung verloren“ habe und die Menschen „sich und ihre Welt aus sich selbst“ verstehen.
So sehr vom SJ-Referenten vergessen wird, das Geflecht von Freiheit und – wem gegenüber denn eigentlich? – Verantwortung zu beleuchten, so selbstverständlich geißelt er die für ihn falsche und wohl auch wenig aufgeklärte Reaktion der Kirche auf Modernismus durch Autorität, Hierarchie und Abgrenzung. Gleichwohl muss er anerkennen, dass eine als geschlossen empfundene Kirchengesellschaft entstand, die zumindest im deutschen Sprachraum „ein bemerkenswert intensives kirchliches Leben“ hervorbrachte. Freilich: „Der Preis, der dafür gezahlt werden musste, war die Abschottung von der Moderne.“
Endlich sei durch das Zweite Vatikanische Konzil die Befreiung gekommen: „Im Vordergrund stehen nicht Hierarchie und Autorität, sondern Communio und Dialog.“ Und die konkreten Forderungen dieses neuen Kirchenverständnisses „heißen Mitbeteiligung, Mitsprache und Mitverantwortung“. Pluralismus schaffe schließlich eine „offene Kirche“. Aus dem Amt werde mehr und mehr die Gesprächsleitung am Runden Tisch. Wer also „für das Kirchenbild des Runden Tisches plädiert, plädiert nicht für bestimmte Problemlösungen, sondern für eine Methode der Entscheidungsfindung.“
Viele würden heute wohl zustimmend nicken und die kritische Zwischenfrage, ob denn Kirche mehr sei als ein Kommunikationsunternehmen wie viele andere und wo denn die sakramentale Struktur des fortlebenden Christus mit Seinem treuhänderisch übermittelten Wahrheitsanspruch bleibe, als nun wirklich störend empfinden. Seibels Erkenntnis, die Kirche könne „nur leben und überzeugen durch Kommunikation, Dialog, offene Auseinandersetzung, Bemühen um Verständigung, eben mit der Verwirklichung des Runden Tisches“, ist längst zum mentalen Habitus nicht nur zentralkomiteekatholischer tagesaktueller und politisch passender Flexibilität sozialpolitischer Dimension geworden. Und was ist, wenn man sich die real existierende und medial wahrgenommene Kirche heute ansieht, mit Überzeugung durch Mut zur Wahrheit, zum Bekenntnis, zum Wissen um die Lehre des Gottessohnes? Immerhin: Seibel beendete seine Matrix für die „moderne“ Kirche mit dem „martialischen“ Hinweis, es müsse klar sein, „auf welcher Seite die Bataillone der Gesellschaft Jesu heute kämpfen sollen“.
Kampf? Schlachten um Strukturen, um Inhalte zu ändern und passgenau zu machen? Krieg um das, was Kirche eigentlich ist – oder sein soll? Mehr als drei Jahrzehnte zuvor hatte der junge Professor Joseph Ratzinger glasklar auf eine bedenkliche Entwicklung in und für die Kirche hingewiesen. Seine Analyse liest sich wie eine vorweggenommene Warnung, wohin ein solcher „Kampf“ führen könnte – und müsste. Der in der Zeitschrift „Hochland“ im Oktober 1958 veröffentlichte Text hat es in sich und bis heute nichts an fordernder Aktualität verloren. Leider. Entscheidende Passagen müssen hier vollständig zitiert werden. Sie sind schon jetzt als brennender Auftrag für jeden, dem die Kirche Jesu Christi nicht gleichgültig ist, ein ins Mark treffender Nachlass des späteren Papstes (Hervorhebung kursiv durch den Autor):
„Nach der Religionsstatistik ist das alte Europa noch immer ein fast vollständig christlicher Erdteil. Aber es gibt wohl kaum einen zweiten Fall, in dem jedermann so genau wie hier weiß, dass die Statistik täuscht: Dieses dem Namen nach christliche Europa ist seit rund vierhundert Jahren zur Geburtsstätte eines neuen Heidentums geworden, das im Herzen der Kirche selbst unaufhaltsam wächst und sie von innen her auszuhöhlen droht. Das Erscheinungsbild der Kirche der Neuzeit ist wesentlich davon bestimmt, dass sie auf eine ganz neue Weise Kirche der Heiden geworden ist und noch immer mehr wird: nicht wie einst, Kirche aus den Heiden, die zu Christen geworden sind, sondern Kirche von Heiden, die sich noch Christen nennen, aber in Wahrheit zu Heiden wurden. Das Heidentum sitzt heute in der Kirche selbst, und gerade das ist das Kennzeichnende sowohl der Kirche unserer Tage wie auch des neuen Heidentums, dass es sich um ein Heidentum in der Kirche handelt und um eine Kirche, in deren Herzen das Heidentum lebt.“
Diese Beobachtung ist sechzig Jahre alt – und jung. Was wurde daraus gelernt? Worauf käme es – neben allen Strukturdebatten und monetären Effizienzprozessen – denn nun an, um eine innerliche und anziehungsstarke Erneuerung der Kirche zu ermöglichen? Hatte der heilige Pius X. nicht doch recht mit seinen Versuchen, moderne Entwicklungen kritisch und differenziert zu betrachten und sich als Kirche eben nicht willenlos der Welt anzupassen? Oder war es nicht ein Hinweis auf Weitsicht, wozu ja gerade die Vertikale des vielfach vergessenen und beiseite geschobenen Kreuzes Christi befähigt, eine Erneuerung in Christus zu fordern? Omnia staurare in Christo.
In Zeiten, in denen in manchen Bistümern Priester unter der Last des Managements und dem Druck des Misstrauens – auch von Vorgesetzten – als Seelsorger zusammenbrechen, aufgeben, verzweifelt sind und alleingelassen werden, darf und muss die Frage erlaubt sein, was für eine Priesterausbildung jenseits von Mediationskursen und Psychocoaching getan wird und vielleicht neu entdeckt werden sollte. Das setzt aber die Zulassung der Erkenntnis voraus, dass es die Weihe zum Priestertum gibt, dass es dieses in besonderer Weise auf Christus selbst bezogene Amt des Seelsorgers tatsächlich gibt und braucht, damit – was ja keine Nebensache ist und sein darf – der am Kreuz Gestorbene und von den Toten Auferstandene selbst in der Eucharistie durch den auf Ihn geweihten Priester handelt und vor allem wandelt.
Pyramide? Zelt Gottes? Göttliche Stiftung? Konferenzraum? Runder Tisch? Sozialagentur? Demokratiespielwiese? Diskutierfreudiger Verein? Caritative Großgesellschaft? Worauf kommt es an? Was ist wirklich wichtig und entscheidend? Was hat welchen Stellenwert – in Geist, Herz und Seele? Haben wir den Himmel als eigentliche Heimatberufung noch vor Augen? Wird die Sehnsucht nach dem himmlischen Vater noch erkannt, gespürt und gefördert? Gibt es noch das Wissen darum, dass erst die Verankerung in der Transzendenz, also der Blick über den Tellerrand hinaus befreit zu größtmöglicher Tatkraft für Würde, Leben, Gerechtigkeit und Frieden in der platten Immanenz dieser Welt?
Wer wirklich eine in zweifellos schwierigen Zeiten und von säkularen Versuchungen und Anfeindungen umgebenden Welt die Erneuerung der Kirche ermöglichen will, wer also keine Angst vor der Wahrheit und vor der Kraft des Heiligen hat, der muss wohl an erster Stelle und immer wieder den Gedanken bei sich selbst prüfend zulassen: Wie hältst Du es mit der heiligen Messe, mit dem Altarsakrament der realen Präsenz des Herrn – und mit im besten Sinne frommen Priestern? Mit geistlichen Persönlichkeiten, die Geist und Seele Nahrung vermitteln können? Wer das aber abtut, der ist mitverantwortlich dafür, dass die Kirche Gottes von innen her ausgehöhlt wird durch ein neues Heidentum aus dem Raum der Kirche selbst.
Der Mensch ist und bleibt, trotz noch so geschickter Verblendung und Ablenkung, wesentlich mehr als ein in nackter Vernunft sich selbst Definierender. Seine Seele sucht und will mehr. Und deshalb ist es so dringend erforderlich, dass das Herz der Kirche nicht gefüllt wird von Strukturdebatten, Dialogbekenntnissen und Heidentum, sondern von der Anbetung Gottes. Die Zeit ist reif für neue Erkenntnisse – und ein starkes und frohes Bekenntnis. Und dazu gehört die Wiederentdeckung des missionarischen Auftrags, der immerhin vom Gottessohn selbst kommt.
Zuerst erschienen am 18.07.2018 auf https://www.die-tagespost.de/feuilleton/Gottes-Werk-oder-Runder-Tisch;art310,190445