Philosoph, Priester, Prophet, Papst – Johannes Paul II. spürte ein Leben lang der Frage nach: Wer ist der Mensch?
Von MARTIN LOHMANN
Kann man definitiv sagen, dass jemand wirklich ein Großer war? Gibt es Kriterien, an denen man dies bemessen darf? Wer auf Karol Wojtyla blickt, der am 18. Mai 1920 in Wadowice das Licht der Welt erblickte und als Johannes Paul II. in vielfacher Hinsicht zum Leuchtturm in verdunkelter Zeit wurde, steht vor dem Phänomen eines Giganten, der Kirche und Welt beeindruckte, faszinierte, irritierte, verärgerte, herausforderte – und vor allem prägte. Michail Gorbatschow hätte seine Mission ohne den Mauerbrecher aus Polen nicht machen können. Die Wiederentdeckung der befreienden Sexualmoral als Theologie des Leibes wäre ohne den entschlossen unbequemen und liebevollen Pontifex aus ihrer Gefangenschaft in verklemmter Prüderie wohl noch immer nicht herausgeführt worden.
In der persönlichen Begegnung war jedes Mal die Aura eines sensiblen, hellwachen, geistreichen, interessierten, geist- und herzgroßen sowie gottvertrauten Mann Gottes regelrecht spürbar. Man begegnete einer großen Persönlichkeit. Der Gesegnete vermittelte seinem Gegenüber Segen. Auf der Suche nach dem Quell der vielfältigen Dynamik einer derart begabten angstfreien und entschiedenen Person, die als Stellvertreter Christi auf Erden bis zum letzten Atemzug treu den empfangenen Auftrag ausführte, wäre es wenig überraschend, den liebenden und beauftragenden Gott zu nennen. Es sind aber, um es etwas konkreter zu machen, vor allem drei Begriffe, die diese ruhelose Sehnsucht bei Johannes Paul II. lebenslang zum Ausdruck bringen: Leben. Wahrheit. Freiheit. Vielleicht zeichnen die in ihnen wohnenden Inhalte mit den damit verknüpften Haltungen den Mut nach, den der Petrusnachfolger am Tag seiner Amtsübernahme 1978 mit dem berühmten Aufruf in die Welt rief: „Habt keine Angst! Öffnet, ja reißt die Tore weit auf für Christus!“
Dieser Ruf bleibt aktuell. Der moderne Mensch gibt es ungern zu, aber ahnt – nicht nur in Gesundheitskrisen – doch sehr wohl, wie sehr die Angst vor Verlust, Missverständnis, Ohnmacht, Sicherheit, Freiheit und Leben allgegenwärtig zu sein scheint und den Zugang zum Mut für das Leben in Freiheit und Wahrheit versperrt. Was ist der Mensch? Wer erlöst ihn? Wer oder was macht ihn frei? Was ist Freiheit? Was ist Leben? Was ist gar Leben in Fülle? Und: Gibt es so etwas wie Wahrheit?
Der Pole auf der Cathedra Petri, der die Tyrannei selbst erlebt hatte und als Philosoph und Theologe nicht satt werden konnte beim Nachspüren dessen, was den Menschen ausmacht und auszeichnet, verband seine marianische Treue zum Gottessohn als das große M unter dem Kreuz mit der intellektuellen Redlichkeit eines Gelehrten, der anderen zu deren Wohl das Erkannte weiterreichen wollte. Die sich als süße und lockende Speise tarnende tödliche Unlogik einer gottlosen sogenannten Aufgeklärtheit schmerzte ihn. Nicht nur im persönlichen Gespräch blitzte bei aller Hoffnungsstärke und aller Geborgenheit in Gott eine – freilich angstfreie und daher nicht lähmende – Sorge um suizidale Entwicklungen der Menschheit in seinen Gesichtszügen auf. Er konnte und wollte nicht ruhen, die Wahrheit zu verkünden, die Freiheit zu beleuchten und das Leben zu schützen.
Beim Angelus-Gebet am 25. Juli 1993 beispielsweise fand er Worte, die auch an seinem 100. Geburtstag mahnend bleiben: „Es ist unmöglich, dass die Wissenschaft soviel unternimmt, um das Leben zu bewahren, und sich dann zum Komplizen seiner Zerstörung macht. Es ist unmöglich, dass man für die Achtung des tierischen und pflanzlichen Lebens eintritt, aber nicht mit demselben Engagement auch für die ersten Stadien des menschlichen Lebens kämpft (…)“. Besonders beunruhigend sei „die Gewöhnung an eine Kultur des Todes, die sich nicht selten als Errungenschaft der Zivilisation und Eroberung neuer Rechte präsentiert, in Wirklichkeit aber mit der Abtreibung dem menschlichen Leben nachstellt, noch bevor es das Licht der Welt erblickt hat, oder es durch Euthanasie noch vor seinem natürlichen Ende auslöscht.“
Für Johannes Paul II. gab es kein Abschneiden des Lebens von Wahrheit und Freiheit. Wo er den einen Begriff nannte, schwangen die beiden anderen stets mit. Freiheit war für ihn das Gegenteil von Willkür. Freiheit war für ihn – etwa im Blick auf die Ehe als Abbild der Liebe Gottes zu seiner Kirche – eine Entscheidung aus Freiheit in Liebe für die Treue der Verantwortung. Nicht zuletzt jungen Menschen genau dies immer wieder – zum Beispiel bei den Weltjugendtagen, zu denen er Millionen anzog – erklärend zu schenken, beseelte ihn auch noch als betagter und von Krankheit gezeichneter Apostel des Lebens. Die Freiheit sei eine Gabe des Schöpfers, bedeute aber niemals Willkür: „Es gibt keine Freiheit ohne Bindung. (…) Eine Gesellschaft, die Verantwortung, Gesetz und Gewissen bagatellisiert, bringt die Fundamente des menschlichen Lebens ins Wanken.“ Freiheit ohne Verantwortung und ohne Bindung an letzte Werte werde dann eben zur Willkür, zur Untreue. (1983 in Wien)
Er war überzeugt, dass sich vor allem die christlichen Intellektuellen mehr als bisher bewusst machen müssten, „welches Geschenk der Schöpfer dem Menschen gemacht hat, indem er ihn mit Vernunft ausstattete“. Vom Fundament aller Wahrheit und allen Seins, also von Gott selbst, komme die „unbezähmbare Sehnsucht der menschlichen Vernunft nach der Wahrheit“. Nur eine ehrliche Suche nach dem Wahren und die Aufgeschlossenheit für die Wahrheit ermögliche es, „um aus der Krise herauszukommen, von der Kultur und Wissenschaft befallen sind, wobei letztere um so freier sein wird, je mehr sie sich von der Wahrheit bestimmen“ lasse. Der Jugend vertraute dieser Universalseelsorger 1985 an: „Die Wahrheit ist das Licht des menschlichen Verstandes.“ Immerhin hat der Gottessohn versprochen: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch befreien“ (Joh 8,32). Den Jugendlichen sei – „wenn man so sagen kann – der ,Sinn für die Wahrheit’ angeboren. Und die Wahrheit soll der Freiheit dienen. (…) Was aber bedeutet frei sein? Es bedeutet, die eigene Freiheit in der Wahrheit zu gebrauchen wissen – ,wahrhaft’ frei sein“. Und wahrhaft frei sein bedeute, „die eigene Freiheit für das zu gebrauchen, was ein wirkliches Gut darstellt“.
Hier leuchtet der Kern der Philosophie des Professors Karol Wojtyla auf, der sich schon früh mit der ebenso einfachen wie anspruchsvollen Frage beschäftigte: Was ist der Mensch? Wer ist der Mensch? Zeitlebens bewegte ihn, den großen Philosophen und Denker auf der Cathedra Petri, das Nachdenken und Fragen über den Menschen und seine Freiheit. Thomas von Aquin und dessen Frage, was denn das Sein des Seienden im Wesentlichen ausmache, verband der Krakauer Philosoph mit der modernen Phänomenologie, also dem Erforschen dessen, wie unser Erkennen im Bewusstsein geschieht. Bereits 1969, als Erzbischof von Krakau, bündelte Wojtyla seine Überlegungen in dem philosophischen Werk „Person und Tat“.
Was ist der Mensch? Was kann ich erkennen? Wie kann ich erkennen? Was bedeutet es, wenn wir von Person und Freiheit reden? Es waren und sind die Fragen, die Karol Wojtyla in den Mittelpunkt seines Lernens und Lehrens stellte, weil er davon überzeugt war, dass man so seine Fähigkeit entwickelt, selbständig denken zu können. Der Philosoph und Seelsorger traute dem Menschen stets viel zu, wohl wissend aus einem starken Glauben an den Schöpfergott, dass dieser seinem Geschöpf ungeahnte Möglichkeiten und Kompetenzen mitgegeben habe. Er war überzeugt, dass im Menschen eine Größe schlummere, die im ahnungssicheren Nachspüren durch das offene Nachfragen den Schlüssel bereithalte, die eigene und durch Erkennen lebbare Freiheit zu ertasten. In Wojtylas Anthropologie entdeckt der Mensch sich als Person und Subjekt. In seiner – die Phänomenologie und Thomismus verbindend – Lehre vom Menschen ist dieser jemand, der aufgrund von Beobachtung und Erfahrung sich seiner selbst vergewissern kann – und dabei entdeckt, dass seine eigene Größe komplettiert wird durch die Berufung zur Transzendenz. Freiheit wird so zu einer gelebten Wirklichkeit. Oder, wie es die Psychiaterin und enge Freundin des Heiligen Wanda Poltawska ausdrückt: Es ging ihm stets darum, dass der Mensch sich selbst so gut wie möglich selbst zu verstehen lerne, die Wahrheit seines Lebens. Er wusste, „dass der Mensch sich als Geschöpf am besten entwickeln kann, wenn er die Nähe zum Schöpfer sucht, zu demjenigen, dem er sein gesamtes Sein verdankt“.
Wahrheit. Freiheit. Leben. Außerhalb der Wahrheit gibt es keine Freiheit: „Außerhalb der Wahrheit ist Freiheit keine Freiheit. Sie ist Schein. Sie ist sogar Knechtung“ (Predigt in Polen 1991). Wie in einem Brennglas lieferte der Mann, der sein Pontifikat mit der Aufforderung zum Einreißen der Mauern begonnen hatte, am offenen Brandenburger Tor in Berlin am 23. Juni 1996 den Deutschen eine Zusammenfassung dessen, worauf es am Ende immer ankommt. Es war zugleich ein machtvoller Ruf an alle Menschen in der Welt: Befreit Euch zur Freiheit! Denn: „ Der Mensch ist zur Freiheit berufen.“ Diese aber sei kein Freibrief. Wer „aus der Freiheit einen Freibrief macht, hat der Freiheit bereits den Todesstoß versetzt.“ Der Mensch sei „– will er in Wahrheit Mensch sein – ein Hörender und Horchender: Seine freie Schaffenskraft wird sich nur dann wirksam und dauerhaft entfalten, wenn sie auf der Wahrheit, die dem Menschen vorgegeben ist, als unzerbrechlichem Fundament gründet. Dann wird der Mensch sich verwirklichen, ja über sich hinauswachsen können. Es gibt keine Freiheit ohne Wahrheit.“ Zur Freiheit gehöre auch: „Achtet die unantastbare Würde eines jeden Menschen, vom ersten Moment seiner irdischen Existenz bis hin zum letzten Atemzug! Erinnert euch immer wieder an die Erkenntnis, die euer Grundgesetz allen anderen Erklärungen voranstellt: Die Würde des Menschen ist unantastbar! Befreit euch zur Freiheit in Verantwortung! Öffnet die Tore für Gott!“
Und immer wieder hallte es über den Platz vor dem so lange zugemauerten Tor in der deutschen Hauptstadt: „Der Mensch ist zur Freiheit berufen.“ Und der Papst nannte es selbst eine Verkündigung: „Die Fülle und die Vollkommenheit dieser Freiheit hat einen Namen: Jesus Christus. Er ist der, der über sich bezeugt hat: Ich bin die Tür. In ihm ist den Menschen der Zugang geöffnet zur Fülle der Freiheit und des Lebens.“
Man möchte seinem klugen Nachfolger, Papst Benedikt XVI., zustimmen, was dieser als Kardinal so zum Ausdruck brachte: „Ja, Johannes Paul II. ist ein großer Mensch – groß gerade, weil er nicht sich selber sucht, sondern ganz dem zur Verfügung steht, den der Glaube als das fleischgewordene Wort Gottes bekennt.“ Aus diesem Glauben ist mit hoffnungsfester Sicherheit anzunehmen, dass der ein Leben lang Treue im Haus des Vaters die Fülle dessen erlebt und erfährt, was Leben, Wahrheit und Freiheit bedeuten.
Martin Lohmann ist Publizist, Theologe, Philosoph und Historiker. Er ist Papst Johannes Paul II. häufig begegnet und gilt als Kenner dieses Philosophen und Theologen auf der Cathedra Petri. Der Journalist Lohmann ist Gründer und Geschäftsführer der Bonner Akademie für Das Leben (ADL) und Autor zahlreicher Bücher zu Kirche und Politik. Der hier vorliegende Text ist eine erweiterte Fassung eines Beitrags, der am 7. Mai 2020 in der katholischen Wochenzeitung „Die Tagespost“ erschienen ist. © LohmannMedia/ADL