Mehr als eine Jesus-NGO

Was ist die Kirche? Treuhänderin der Wahrheit oder soziale Superorganisation? Es ist Zeit, den Kompass neu auszurichten – um der Freiheit für alle zu dienen. Ein Essay. Von Martin Lohmann

Was ist eigentlich die katholische Kirche? Auf diese Frage könnten sehr verschiedene Antworten kommen, je nachdem, wo und in welchem Rahmen man nach dem Verständnis der Kirche fragt. In einem beschaulichen Anbetungskloster hat man sicher einen anderen Blick als etwa in den Medien oder im sonstigen öffentlichen Raum. Die Vermutung liegt nahe, dass diejenigen, die eher von außen und ohne eigenen Glauben auf jenes Gebilde aus Papst, Bischöfen, Priestern, Ordensleuten und Laien schauen, etwas Politisches oder vor allem Soziales wahrnehmen.

Das ist verständlich, zumal der soziale Auftrag und der Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden wesenhaft dem christlichen Auftrag entspringen, der sich an einem barmherzigen und liebenden Gott orientiert, dem kein Mensch gleichgültig ist und in dem die Erkenntnis der Menschenwürde eines jeden Menschen verankert ist. Warum? Weil jeder ein Geschöpf des Vaters und Schöpfers ist, und weil die Kinder Gottes eine Gleichwertigkeit auszeichnet, die von der Aufklärung absurderweise zur faktenwidrigen Gleichheit deformiert wurde. Jeder ist also vom Größten zum Maximum berufen, zum Leben mit und vor dem Allmächtigen, zum Leben in Fülle. Jedes menschliche Leben ist gleich wertvoll, unabhängig von seinem Zustand, seiner Begabung, seiner Hautfarbe, seiner Nationalität, seiner Gesundheit und seinen Fähigkeiten.

Es ist also nur normal, dass sich diejenigen, die sich auf Ihn berufen und im Namen des Gottessohnes Jesus Christus unterwegs sind, um die tätigen Konsequenzen dieser Wahrheit bemühen. Caritas und das Einmischen ins ganz reale Leben sind nicht nur legitim, sondern geboten. Das christliche Menschenbild mit seiner Erkenntnis von Personalität, Subsidiarität und Solidarität fordert das konkrete Bekenntnis zum Menschen. Im Idealfall findet sich ein schwungvolles Miteinander von Gottesbekenntnis und Nächstenliebe. Das Sakrale, das Heilige will in das Profane wirken, so wie das Profane ein Abheben ins Unbestimmte und Gefühlige verhindert. Doch dieses Miteinander ist in Zeiten, in denen allenthalben der Verlust des Heiligen und der Transzendenz beklagt werden kann, alles andere als selbstverständlich.

Gerade in Zeiten der Diktatur des Relativismus (Benedikt XVI.) scheint die Versuchung der Dominanz des rein Innerweltlichen eine besondere Anziehungskraft zu haben. Auch die mit dem sofortigen Verfallsdatum daherkommende Medienwirklichkeit mit ihrer Verlockung zur tagesaktuellen Dehnbarkeit katholischen Denkens und der Ausrichtung auf Mikrophone und Kameras bleibt nicht ohne Wirkung auf eine Kirche, die den Auftrag des göttlichen Gründers treuhänderisch bekommen hat, in aller Welt die Wahrheit, das Leben und den Weg des Herrn zu verkünden. Bis hinein in die Kirche sammeln sich Unverständnis und Missverständnisse angesichts eines heutzutage einer ängstlichen Toleranz geschuldeten Missionsbefehls Jesu Christi. Und weil die Oberflächlichkeit der medial präsentierten Wirklichkeit sich schwertut mit theologischen Erkenntnissen und unverstandenen Sakramenten, schieben sich andere Themen als vermeintliche Kernbotschaften in den Vordergrund.

Wer manche Verlautbarungen katholischer Gremien und Amtsträger zur Kenntnis nimmt, könnte fast meinen, das eigentliche und heutige Evangelium der Kirche sei etwa der Klimaschutz, die Flüchtlingspolitik oder eine Wohlfühlgesellschaft, in der das Kreuz stört und manche fordernden Worte des Gottessohnes als gestrig und möglicherweise gar als nicht mehr gültig zu sein scheinen. Katholikentage lassen den Eindruck eines bunten und pluralistischen Parteitages mit der Neigung selbstgerechter Zufriedenheit zu. Anecken? Auf keinen Fall! Jedenfalls nicht im sogenannten Mainstream – was immer das auch sei. Gepaart wie das andererseits mit dem Unverständnis über bischöfliche Hirten, die aus falscher Rücksichtnahme ausgerechnet auf dem Tempelberg in Jerusalem das Kreuz Jesu Christi ablegen und später gegen Politiker wettern, die sich zum Kreuz als Zeichen der christlichen Identität bekennen.

Das empörte und besorgte Wort von Kardinal Ratzinger am Karfreitag kurz vor seiner Erwählung zum Petrusnachfolger, wo er die „Leere und Bosheit des Herzens“ benannte, scheint auch hier und heute in vielen Bereichen der Kirche seine Berechtigung zu haben: „Wie wenig Glaube ist in so vielen Theorien, wie viel leeres Gerede gibt es? Wie viel Schmutz gibt es in der Kirche und gerade auch unter denen, die im Priestertum ihm ganz zugehören sollten? Wie viel Hochmut und Selbstherrlichkeit?“ Aus dem von Karl Rahner entdeckten „anonymen Christentum“ erwächst so etwas wie ein Christentum ohne Bekenntnis. Irgendwie leuchtet die Aktualität des Konzils von Konstanz auf, auf dem 1417 Papst Martin V. gewählt wurde und das sich drei Anliegen widmete, die heute ebenfalls in den Vordergrund gehören: Glaube, Reform und Einheit.

Gerade in Deutschland könnte man auf die Idee kommen, dass die katholische Kirche in erster Linie eine Art Jesus-NGO sei oder werden solle. Kirche als „Zelt Gottes unter den Menschen“, in dem Gott vor allem angebetet, verherrlicht und gedankt wird, rückt im Bewusstsein eher in den Hintergrund. Der unsägliche Streit um die Kommunion für jene, die eben nicht glauben und bekennen können, dass der real Gestorbene und real Auferstandene im gewandelten Brot real gegenwärtig ist, offenbart in einigen Teilen das verdunstete und vielfach deformierte Kirchenbild, das seit Martin Luther und seiner Irrlehre über die Eucharistie über die Philosophie der Aufklärung und deren Leugnung wesentlicher Inhalte, die auch in die Theologie hinüberschwappte, jene Ganzheit verloren hat, das es in den Jahrhunderten zuvor selbstverständlich hatte. Auch liturgische Feiern, die sich mehr am Happeninggehalt und eloquenter Selbstdarstellung orientieren als an der Ehrfurcht des mystischen Wandelns im Vorhof des Himmels, verraten einen Glaubensverlust und eine in wahrheitsphober Ideologiezeit – gewollt oder ungewollt – zugelassene Attacke gegen alles, was den Horizont des rein Weltlichen übersteigt.

Der sensible Schein des Ewigen scheint zu stören, zu überfordern und wird faktisch ausgeblendet. Dazu passt dann auch, dass Priester weniger Gottesmänner sind als aktive und umtriebige Pfarrmanager. Was sich ein Papst Leo XIII. 1884 mit seiner Enzyklika „Humanum genus“ als Angriff auf die Freimaurer und ihre Vorstellung einer von Gott und damit gegen ihn gerichteten absoluten Freiheit des Menschen noch traute, wagt heute kaum mehr jemand nur zu zitieren. Ganz zu schweigen von einem Maximilian Maria Kolbe, der die Militia Immaculata im Vertrauen auf die Gottesmutter 1917 gründete, deren Mitglieder täglich für die Bekehrung der Freimaurer beten. Der große Kirchenhistoriker Hubert Jedin (1900 bis 1980), den die Nationalsozialisten zur Emigration zwangen, beklagte in seinem Lebensbericht die „immer weiter um sich greifende Unsicherheit im Glauben, hervorgerufen durch die ungehemmte Verbreitung von theologischen Irrtümern auf Kathedern, in Büchern und Aufsätzen“, den „Versuch, die Formen der parlamentarischen Demokratie auf Kirche zu übertragen“, die „Entsakralisierung des Priestertums“ und die „freie ,Gestaltung‘ des Gottesdienstes statt Vollzug des Opus Dei“ sowie einen „Ökumenismus als Protestantisierung“. Sympathisch war diese analytische Klage schon damals auch manchen Bischöfen nicht.

Was ist die Kirche? Wer vom Leib Christi spricht oder vom fortlebenden Christus oder gar der Gemeinschaft der Heiligen, die sich ja in besonderer Weise zu dem Heiligen bekennen und sich als seine Familie von Ihm gleichsam positiv kontaminieren lassen, erntet auf den ersten Blick bis in die Gemeinschaft der Katholiken vielfach Unverständnis. Heilig? Berufung zum ewigen Leben? Anbetung? Objektive Liturgie als respektvolles Wandeln vor Gottes Angesicht? Danksagung? Es soll gar hohe Amtsträger geben, die nicht wirklich glauben (können), dass Jesus Christus der Sohn Gottes ist und meinen, der Verlobte der Jungfrau Maria, der heilige Josef, sei auch leiblicher Vater Jesu. Das ist ebenso häretisch wie die Vorstellung, es gebe keine Wahrheit. Immerhin hat der Sohn der Jungfrau sich selbst als DIE Wahrheit, DAS Leben und DEN Weg bezeichnet – und gesagt, niemand komme zum Vater denn durch Ihn.

Es gibt eine göttliche Existenzgarantie für die Kirche Jesu Christi. Aber die ist nicht einem bestimmten Territorium, auch nicht der Kirche in Deutschland separat gegeben. Auch in anderen Erdteilen ist sie schon untergegangen. Zum Beispiel im Norden Afrikas. Wie wichtig die Wiederentdeckung der Wahrheit und der Mut zu ihrer Verkündigung ist, hat Benedikt XVI. einmal so ausgedrückt: „Wenn wir von dem Begriff der Wahrheit abgehen, gehen wir von den Grundlagen ab.“ Und weiter: „Der wirkliche Friede ist deshalb streitbar. Die Wahrheit ist das Leiden und auch den Streit wert. Ich darf die Lüge nicht hinnehmen, damit Ruhe ist. Niemand traut sich mehr zu sagen, dass das, was der Glaube sagt, wahr ist.“

Was ist die Kirche? Heilsgemeinschaft, notwendig und einzig zur Erlösung in Freiheit und Liebe? Wenn sie mehr und mehr den Eindruck zulässt und daran arbeitet, eine noch so beeindruckende NGO zu sein, ist und wird sie austauschbar – und letztlich überflüssig. Wenn das soziale und stets unabdingbar bleibende Engagement der Kirche das Übernatürliche und Sakrale zu verdrängen in der Lage wäre, ebenfalls. Der Glaube drückt sich im Bekenntnis aus.

Auf der Tagesordnung scheint daher heute erneut der Auftrag zu einer Ecclesia semper reformanda zu stehen, einer Reform, die durch die nach vorne gerichtete Rückbesinnung auf die mystische Wirklichkeit und Berufung eines jeden Menschen durch die mittels des Verstandes und in der Anbetung mögliche Erkenntnis Gottes avantgardistisch Horizonte des Lebens, der belastbaren Hoffnung und eines Glückes öffnet, das die in Gleichheit, Brüderlichkeit und irdischer Freiheit gefangene Welt nicht zu geben in der Lage ist. Die Welt braucht keine rein horizontale Jesus-NGO, sondern die vertikale Ausrichtung des Menschen, der durch seinen Glauben an die Erlösung befähigt wird, in dieser Welt Gutes zu tun, zu leiden und zu helfen. Das Kreuz ist Zeichen des Widerspruchs. Und der Erlösung. Es befreit. Denn: Die Wahrheit macht wirklich frei.

 

Quelle:https://www.die-tagespost.de/feuilleton/Mehr-als-eine-Jesus-NGO;art310,189726 (Erschienen am 27.6.2018)